Vernon Dure Der blaue SchirmErste BegegnungDer Tag war wie geschaffen für eine Depression. Ich hatte mich vor den Fluten des Himmels unter den Balkon über der Freitreppe des Rathauses geflüchtet. Trotzdem war ich nass bis auf die Haut. Der dünne Pullover über dem T-Shirt schien sich zu einem Eispanzer um meine Brust zusammen zu ziehen. Bibbernd beobachtete ich den schwarzen Strom, der sich mir entgegenwälzte: Regenschirme in allen Nuancen von Schwarz und Grau, der sich vor mir am Fuß der Treppe teilte. Nur einige unentschlossene Schirme kreiselten vor der Treppe herum, ohne sich für eine Richtung entscheiden zu können. Von meinem erhöhten Standpunkt aus wirkten die Schirme herrenlos: Unter dem schubsenden, schiebenden, schwarzen Gewusel blieben die Träger unsichtbar. Mir drängte sich der Eindruck eines hungrigen Mischwesens aus Kellerassel und Tausendfüßler auf. »Du solltest nicht Biologie studieren, sondern Science-Fiction-Romane schreiben«, hörte ich im Geiste meinen Mitbewohner im Studentenheim dozieren. ![]() |
Während ich gewohnheitsmäßig Block und Stift aus dem Rucksack zog, um meinen ›Kellerassel-Tausendfüßler‹ zu skizzieren, nahm ich eine irritierende Störung am Rande meines Gesichtsfeldes wahr. Mit zusammengekniffenen Augen hob ich den Blick. Die Schwarzfront war gestört: Ein blauer Schirm tänzelte eilig durch die Menge. Fast schien es, als wichen die schwarzen Schirme vor der intensiven Farbe zurück. Fasziniert verfolgte ich den Weg des leuchtenden blauen Flecks auf mich zu. Zielsicher steuerte der Schirm auf die Treppe zu, wich elegant den zögerlichen Kandidaten aus, die am Treppenfuß umherirrten. Stieg dann wie eine blaue Venus aus schwarzem Wasser die Treppe herauf. Mit offenem Mund starrte ich das grazile Mädchen an, das gerade den Knauf des Schirmes in die andere Hand wechselte. Dabei schüttelte sie ihren Kopf, dass ihre hüftlangen Haare sie umflossen wie eine nussbraune Stola. Lächelnd schenkte sie mir einen strahlenden Blick und schwebte an mir vorüber. Gebannt von diesem Blick verpasste ich die Gelegenheit, mit ihr das Gebäude zu betreten. Als ich endlich aufsprang und ihr folgte, war sie schon verschwunden. Hektisch rannte ich die Gänge auf und ab, schaute in etliche Räume, doch ich fand sie nicht. Mir blieb nur die Erinnerung an strahlend blaue Augen, eine braune Mähne – und einen blauen Schirm. Dann entdeckte ich die Regentropfen auf den Bodenfliesen. Mein Herz begann zu rasen. Blind für alles andere hastete ich auf der Spur der Tropfen entlang, an deren Ende ich SIE zu finden hoffte. Eine Tür ins Freie beendete jäh meinen Freudentaumel: Sie hatte das Gebäude wieder verlassen, war im Trubel der Einkaufsstraße verschwunden, ohne mir durch ihren blauen Schirm ein Signal der Hoffnung auf ein Wiedersehen zu geben. »Der blaue Schirm« wird fortgesetzt und zu gegebener Zeit als Taschenbuch/E-Book veröffentlicht. © 2020 Dipl.-Ing. Kurt-Rainer Daubach Publishing |
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