Vernon Dure Der HandleiherAus dem Leben des Johannes NesselNäher, mein Gott, zu DirSeine Hände glitten sanft über die dünne Decke hinauf zu seiner schmerzenden Brust. Doch er spürt schon seit einigen Tagen nicht mehr das beruhigende Pulsieren in seinen Händen, das ihn sein ganzes Leben begleitete. »Hat sich der Allmächtige nun endlich entschlossen, mich zu sich zu rufen.» Johannes stellte es ohne Bedauern fest. So war es immer, so würde es ewig bleiben: Vertraue auf GOTT, Deinen HERRN! Das war Johannes simple Lebensregel, seit er seine ›heilenden Hände‹ entdeckt hatte. Der Schmerz atmete tief, um sich für den nächsten, vielleicht den letzten, Angriff zu rüsten. Johannes entspannte sich und sank in einen unruhigen Schlaf. Der RufDer Junge schreckte auf: Jemand hatte ihn gerufen. Sitzend lauschte er in die Dunkelheit. Der Morgen war noch fern. Leichtfüßig schlüpfte er die Stiege hinunter und horchte erneut in die kalte Nacht. Nichts! Er wandte sich bereits wieder der Stiege zu, als ein Flüstern in seine Ohren drang. Wie aus großer Ferne wehte eine sanfte Stimme heran. Der Junge erspürte eine ungeheure Kraft unter dem Flüstern: »Johannes! Spute Dich! Deine Schwester bedarf Deiner Hilfe. Spüre Deine Hände und hilf ihr!« Er stand einen Moment verwirrt und unschlüssig auf der großen Tenne. Woher kam die Stimme? Kein Schatten, kein Atmen, keine Bewegung verriet die Anwesenheit eines anderen Menschen. Johannes zog ängstlich die Schultern hoch. Neuerdings hörte er häufiger eine fremde Stimme, die ihm dies oder das auftrug. Manchmal waren es Dinge, die für einen Fünfjährigen ganz schön schwer waren. Doch meist war es einfach: Er sollte nur seine Hände spüren, wenn es jemandem schlecht ging. Seine Hände wussten immer von selbst, was zu tun war, wo es weh tat. Oft waren die Kranken anderer Meinung und wollten seine Hände dorthin schieben, wo sie den Quell des Schmerzes vermuteten. Aber seine Hände irrten sich nie! Sie fühlten sich in diesen Momenten so merkwürdig an: pelzig und prall. Wenn Johannes sich ganz vergaß, machte GOTT etwas mit seinen kleinen Händen – und das Schlechte, das Krankmachende wurde schwächer und verschwand schließlich. ![]() Johannes dachte immer: »GOTT leiht sich meine Hände, ohne dass ich ihn sehen kann. Aber ich spüre ihn ganz fest in meinen Händen.« Er hoffte immer noch gegen alle Vernunft, den Allmächtigen einmal zu Gesicht zu bekommen. Er lachte, während er barfuß durch die Nacht lief. Die Kühe im Stall würden es schon einige Stunden ohne ihn aushalten. Zur Melkzeit wäre er bestimmt zurück. |
Lisa»Wo kommst Du denn her, Johannes? Du solltest doch bei den Kühen bleiben. Marsch, geh sofort zurück!« Die Mutter sagte es barsch, doch nicht unfreundlich. Johannes fühlte ihre Sorgen in ihrer Stimme. »Ich wollte nur nach Lisa schauen. Sie braucht meine Hilfe, hat GOTT zu mir gesagt. Da musste ich doch gehorchen.« Seine Mutter nickte gequält: Manchmal nervte der naive Gottesglaube ihres jüngsten Sohnes gewaltig. Aber da ihn in solchen Momenten nichts und niemand von seiner Absicht abhalten konnte, ließ sie ihn achselzuckend gewähren. Vielleicht war es ja auch gut so: Lisa war todkrank. Arzt und Priester waren ausnahmsweise einmal einer Meinung: Mit ihrer Tochter Lisa ging es rasch zu Ende. Noch einige Tage, einige Wochen mochten ihr vergönnt sein. Sie fühlte Bitternis in sich aufsteigen. Ihre Tochter würde nicht am Grab ihrer Mutter beten und an sie denken. Der Schmerz in diesem Gedanken sprengte der Mutter fast die Brust. Konnte das Gottes Wille sein? Das musste es wohl, denn nach menschlichem Ermessen gab es keine Hoffnung, keine Heilung. Ein lauter Schrei, der in ein erlöstes Stöhnen überging, riss die Mutter aus ihren trüben Gedanken. »Lisa!« Aus ihrer Kammer war der Schrei ertönt. Was hatte Johannes wieder angestellt? Das Bild, das sich ihren Augen bot, konnte schrecklicher nicht sein: Lisa wälzte sich nackt und stöhnend auf dem Boden, als würden Krämpfe sie schütteln. Johannes stand über ihr mit bluttropfenden Händen und blickte angstvoll auf seine halbwüchsige Schwester hinunter. Das Blut an seinen Händen schien er nicht wahrzunehmen. »Was hast Du getan?«, schrie die Mutter entsetzt. Grob stieß sie ihn zur Seite und kniete neben ihrer Tochter nieder. »Nichts!«, protestierte Johannes empört. Doch seine Mutter hörte ihn nicht: Mit klammem Herzen beugte sie sich zu Lisa hinunter, deren Stöhnen inzwischen in ein heiseres Lachen übergegangen war. Keuchend und lachend setzte Lisa sich auf, hockte ihrer Mutter gegenüber. Der magere Körper, der erste frauliche Rundungen andeutete, bebte im Takt des Keuchens und Lachens. Dann sprang sie auf, zog ihre Mutter mit sich und tanzte im Raum umher, wie von der Tarantel gebissen. Verwirrt drückte sie ihre Tochter an sich. Waren das die letzten Lebensausbrüche vor dem Tod? Wo kam die lebendige Kraft auf einmal her, mit der der schmale Leib um sie herumwirbelte? »Kind! Was ist mit Dir geschehen? Was hast Du denn?« Sie spürte den kindlichen Leib, der schon vom Tod gezeichnet schien. Doch da war etwas Neues, Anderes: Unbändige Lebensenergie tobte nun in ihrem Kind, das ihr wegen der schweren Geburt besonders ans Herz gewachsen war: Beinahe wären sie beide bei der Geburt gestorben. Sie schob Lisa verwirrt von sich. Dann erschrak sie heftig: Das Mal des Todes, die gewaltige Geschwulst, die den Leib ihres Mädchens so grausig entstellt hatte, war fort! Nur eine handtellergroße, rosafarbene Stelle auf der bleichen Haut zeugte noch von ihrer Existenz. »Er hat das gemacht!«, lachte Lisa und deutete auf Johannes. Der stand in einer roten Lache. Noch immer tropfte Blut von seinen herabhängenden Händen. Reglos stand er, wie gebannt, ohne seine Umgebung wahrzunehmen. »Was? Wie? Was hat Johannes gemacht?«, stotterte die Mutter konsterniert. »Johannes hat seine Hände auf meinen Bauch gelegt, während ich schlief. Sein Puls pochte so heftig, dass ich ihn deutlich fühlen konnte. Dann gab es einen furchtbaren Ruck, als ob ich zerrissen würde. Ich glaubte, ich sterbe. Plötzlich wurde ich ganz leicht – und alle Schmerzen waren ausgelöscht. Ich fühle mich gesund, lebendig, glücklich!« Weinend flüchtete sie in die Arme ihrer Mutter. Die wandte sich ihrem erstarrt dastehenden Sohn zu. Mit Entsetzen betrachtete sie ihn, sah ihn an wie einen Fremden, der ihr zum ersten Mal begegnet. Vor ihm niederkniend, rüttelte sie ihren Jüngsten und nahm ihn ernst in die Arme. Allmählich löste sich seine Erstarrung. »Was hast Du denn, Mama?« Johannes schaute ihr fragend ins Gesicht. »Ich habe nur meine Hände gespürt. So, wie ER es mir geboten hat.« Schaudernd streichelte sie über den Kopf des Jungen. Zwischen Angst und Entsetzen schwankend, fragte sie sich, was aus ihrem Jungen werden würde. © 2020 Dipl.-Ing. Kurt-Rainer Daubach Publishing |
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